In „Waldeseinsamkeit“ liegt das Schloss Altenstein, umgeben von einem weitläufigen Park, von dem schon Johannes Brahms seiner Freundin Clara Schumann in Briefen vorschwärmte. Dieses architektonische und landschaftsgestalterische Kleinod mit stattlichem Ausmaß wurde vom „Theaterherzog“ Georg II. von Sachsen-Meiningen zwischen 1888 und 1891 im viktorianischen Stil zur Sommerresidenz umgebaut. Das typische Flair englischer Herrenhäuser umweht auch heute wieder das einzigartige Ensemble, denn nach tragischem Schlossbrand und aufwändigen Sanierungsarbeiten erstrahlt die Anlage erneut in romantischem Glanz. Der Thüringer Wald bietet die dazu passende Kulisse, welche der auch mit Georg II. befreundete Komponist und Dirigent Johannes Brahms so sehr schätzte. Zwei Mal weilte dieser in Schloss Altenstein: im November 1894 und 1895. Dem Herzog beliebte es, sich während seiner Sommer- und Jagdaufenthalte auf Schloss Altenstein mit Musikern zu umgeben, die zu seinem Divertissement beitrugen und die mit ihm über Kunst und Politik debattierten. Auch der Klarinettist Richard Mühlfeld gehörte dazu, welcher der weltbekannten Meininger Hofkapelle angehörte und der in Brahms einen kongenialen Kammermusikpartner fand.
Clara Schumann wiederum hatte Schloss Altenstein als junge Frau kurz vor ihrer Hochzeit besucht und dort nur minderwertige Tasteninstrumente vorgefunden. Sie sah sich zudem mit einer Heirat konfrontiert, die ihr den Konflikt zwischen einem Dasein als Ehefrau und einer Karriere als Pianistin einbrachte und mit dem sie besonders bei ihrem tristen Besuch, auch im nahegelegenen Bad Liebenstein, haderte. Daher fand sie auch später trotz mehrfacher Bitten von Johannes Brahms den Weg nicht wieder zurück nach Altenstein. Jener hatte ihr aus seinem Balkonzimmer im zweiten Stock am 17. November 1894 geschrieben: „Ich wünschte (und die Herrschaften auch), Du mögest hier an meinem Fenster sitzen, auf meinen Balkon hinausgehen können und dann hinaus in den herrlichen Park und Wald. Die schönsten Fasane, Hirsche und Rehe dutzendweis spazieren mit.“
Heute befindet sich im Schloss das neue Brahmsmuseum, zusammen mit einem chinesischen Kabinett. Eine Bronze des Bildhauers Reinhold Felderhof für ein Hamburger Denkmal aus dem Jahr 1901 stellt den sitzenden Brahms dar und bildet den Mittelpunkt der Sammlung von Fotogravuren, Originalbriefen und Notendrucken, die zeigen, wie eng das Leben des großen deutschen Komponisten mit dem Meininger Herzogtum verbunden war. Besonders glückreich war für ihn die Möglichkeit, in Meiningen mit der dortigen Hofkapelle zusammenzuarbeiten und beispielsweise seine dritte und vierte Sinfonie aufzuführen.
Schloss Altenstein
Johannes Brahms
(1833 – 1897)
Klarinettenquintett op. 115, 1. Satz Allegro
Entstehungsort: Wien/Meiningen
Entstehungsjahr: 1891
Blüten des Herbstes – Brahms und Mühlfeld in Altenstein
Als Johannes Brahms den Meininger Klarinettisten Richard Mühlfeld kennenlernte, war er von dessen Spiel tief beeindruckt: „Man kann nicht schöner Klarinette blasen, als es der hiesige Mühlfeld tut“1, schrieb er an Clara Schumann. Bereits seit dem Jahr 1881 arbeitete Brahms eng mit der Meininger Hofkapelle zusammen. Davon ausgehend entwickelte sich zwischen den beiden Musikern eine enge persönliche und musikalische Freundschaft. Brahms stellte den Klarinettisten gern als „Fräulein von Mühlfeld, meine Primadonna“2 vor und nannte ihn die „Nachtigall des Orchesters“3. Mühlfeld galt als bester Klarinettist seiner Zeit – seine Musizierkunst wurde von Zeitgenossen als technisch und künstlerisch vollendet, warm und klangvoll, poetisch und feinsinnig gerühmt. Die von ihm gespielten, noch heute in Meiningen erhaltenen Bärmann/Ottensteiner Klarinetten zeichneten sich durch einen Reichtum an Klangfarben und differenzierte Register aus, so dass es schien, als könne Mühlfeld mit verschiedenen Zungen singen. Brahms, der auch das Naturhorn dem Ventilinstrument vorzog, war davon fasziniert und ließ sich trotz seiner Ankündigung, mit dem zweiten Streichquartett von 1890 sein letztes Werk komponiert zu haben, zu einer weiteren Schaffensphase inspirieren. So entstanden in seinen letzten Lebensjahren vier Meisterwerke der Kammermusik: das Klarinettenquintett h-Moll im Jahr 1891, das Trio für Klarinette, Violoncello und Klavier op. 114 und die beiden Sonaten op. 120. Auf zahlreichen Konzertreisen unter anderem nach Wien, Berlin und London wurden diese Werke von Brahms und Mühlfeld aufgeführt und international gefeiert.
Im November der Jahre 1894 und 1895 war Brahms auf Einladung von Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen auf Schloss Altenstein zu Gast – für den mittlerweile betagten Komponisten ein Ort der Lebensfreude und des gegenseitigen Austauschs. Hier war es weitgehend möglich, frei von den Zwängen des höfischen Lebens Gespräche zu führen und zu musizieren. Wie herzlich das Verhältnis zwischen Schlossherren und Musikern war, zeigt das Privatkonzert von Mühlfeld und Brahms vor dem Herzogpaar im November 1894, bei dem die beiden Sonaten op. 120 nach einem gemeinsamen Abendessen gespielt wurden, noch bevor sie bei einem Konzert im Wiener Tonkünstlerverein im Januar 1895 erstmals öffentlich erklangen.
Die Uraufführung des Klarinettenquintetts op. 115 fand ebenfalls vor der herzoglichen Familie statt, jedoch in den Räumen des Meininger Schlosses am 24. November 1891, gespielt von Mühlfeld und den Mitgliedern des Joachim-Quartetts. Brahms war gleichfalls anwesend und musizierte gemeinsam mit Mühlfeld das Schwesterstück des Quintetts, das Trio op. 114.
Mit dem Quintett war Brahms ein Meisterwerk gelungen, welches in seiner Vollendung einen einzigartigen Platz in der Kammermusik einnimmt. Über dem Werk liegt ein Ausdruck von schmerzlicher Schönheit und wehmütigem Zurückschauen; die Stimmung scheint wie mit leuchtenden Herbstfarben gemalt zu sein. Der sehnsüchtige Charakter wird gleich zu Beginn durch die terzenselige, jedoch auch melancholische Melodie der beiden Violinen vorgestellt, welche dem gesamten Satz als Motto dient. Auch alle weiteren Motive des gesamten Werkes lassen sich auf diesen Anfang des ersten Satzes beziehen. Diese Art der thematischen Verflechtungen und satzübergreifenden Bindungen ist typisch für den späten Kompositionsstil von Johannes Brahms.
Weiterhin ist der erste Satz geprägt durch den ständigen Wechsel von lyrischer Poesie, drängender Leidenschaft, inniger Ruhe und martialischer Kraft. Das schwingende Hauptthema, vorgestellt von Viola und Violoncello, wird bald von einem dramatisch punktierten Gegenthema abgelöst, welches völlig verwandelt in der Durchführung erscheint – im Wechselgesang von Klarinette und Violine bildet es hier eine Oase der Ruhe. Der Eindruck des Zurückschauens stellt sich wiederholt ein, indem Brahms das wehmütige Anfangsmotiv der Violinen sowohl in der Reprise als auch in der Coda zitiert. Den Schluss des ersten Satzes, ein rezitativartiges Zusammensinken in dunkle h-Moll-Akkorde, stellt Brahms auch ans Ende des gesamten Quintetts.
Nach allem, was vorher musikalisch gesagt wurde, erscheint dieser Schluss des Werkes wie ein Zurückschauen auf das eigene Leben, vielleicht auch auf die unerfüllte Liebe zu Clara Schumann, welche Brahms fortwährend hegte. So galten auch seine vielleicht letzten komponierten Töne in den „Vier ernsten Gesängen“ op. 121 den Worten: „Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ In Ausdruck und Kantilene sind sie manchen Stellen im Quintett ähnlich. Vielleicht war es tatsächlich diese letzte Liebe zum «Fräulein Klarinette»4, welche die kompositorische Spätblüte möglich machte.
Daniela Döhler-Schottstädt