Wohin das Auge blickt – überall sieht man Muster, schiefrunde Perlen, Schnörkel, Gesichter sowie Tiere auf prächtigstem Mattrot, Grün und Blau, die sich zu Geschichten zusammenfügen und die Fantasie beflügeln. Auf der Heidecksburg haben die Wände ein eigenes Leben und auch das musikalische Leben hier und in Rudolstadt war und ist seit der Ersterwähnung einer Rudolstädter Hofkapelle unter Graf Ludwig Günther I. von Schwarzburg-Rudolstadt im Jahr 1635 äußerst lebendig.
1681 fand der Ostfriese Philipp Heinrich Erlebach den Weg ins entlegene Rudolstadt und begann bereits in jungen Jahren seine Tätigkeit als Hofkapellmeister. Mehr als drei Jahrzehnte lang war es seine Aufgabe, festliche Werke zu komponieren, die am Hof gebraucht wurden: Festmusiken, Serenaden, Oratorien, Motetten, Opern, Ballette und Kantaten sowie Ouvertüren „à la manière francaise“, wie es damals Mode war. Diese so verschiedenen Gattungen der Instrumental- und Vokalmusik waren überaus beliebt, denn sie atmeten das barocke Lebensgefühl und strahlten prachtvolle und kunstsinnige Ästhetik aus. Der erfolgreiche Hofkapellmeister Erlebach machte auf diese Weise den Fürstensitz zu einem Zentrum musikalischen Lebens.
1735, gut zwanzig Jahre nach Erlebachs Ableben, geschah das Tragische: Ein Schlossbrand zerstörte den größten Teil der Notenmanuskripte Erlebachs. Von den ursprünglich über tausend Werken sind deshalb heute gerade mal siebzig überliefert. Die wertvolle Musikbibliothek ging verloren, weshalb man heute nur eine Ahnung des damaligen musikalischen Reichtums bekommen kann.
Den Aufstieg der Hofkapelle konnte dies jedoch nicht aufhalten. 1793 wurde das Rudolstädter Theater eingeweiht und von Goethe höchstpersönlich von Weimar aus geleitet. Die Hofkapelle begleitete alle Opernaufführungen, wie Webers Freischütz und Wagners Tannhäuser. Durch seine Fortschrittlichkeit gehörte der Rudolstädter Hof zu den maßgeblichen Schmelztiegeln für die Entwicklung der deutschen Orchesterlandschaft: Zahlreiche brandneue Werke Beethovens kamen zur Aufführung, Richard Wagner, Niccolo Paganini und Franz Liszt gaben sich hier die Klinke in die Hand. Die musikalische Welt traf sich in Rudolstadt.
Residenzschloss Heidecksburg, Rudolstadt
Philipp Heinrich Erlebach (1657–1714)
Sonata Prima in D-Dur
aus: „VI. / SONATE / à / Violino e Viola da Gamba col suo Basso Continuo“
Sätze: Adagio, Allegro, Affettuoso, Allemande un poco adagio, Courante, Sarabande, Gique
Entstehungsort: verm. Rudolstadt
Entstehungsjahr: gedruckt in Nürnberg, 1694
Philipp Heinrich Erlebach (1657–1714):
Ein Ostfriese in Thüringen
Trotz des überschaubaren politischen Einflusses der Grafen von Schwarzburg-Rudolstadt pflegte man im 17. Jahrhundert an den Höfen der Region ein reichhaltiges kulturelles Leben. Dazu zählte beispielweise eine moderne Hofkapelle, die sich mit rund 18 Musikbediensteten des Hofstaats und über 46 Instrumenten durchaus sehen lassen konnte.1 Überhaupt spielte die Musik am Rudolstädter Hof eine große Rolle, was nicht nur am Kunstinteresse der Grafen lag.
Das Wohlwollen der Obrigkeit verschaffte dem 1657 in Esens, Ostfriesland geborenen Philipp Heinrich Erlebach nicht nur eine breite Ausbildung, sondern durch dynastische Verbindungen der Höfe Aurich und Rudolstadt (die Witwe des Fürsten Enno Ludwig von Ostfriesland, Justine Sophie, war die Schwester der Gräfin Aemilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt) auch seine Anstellung als Musiker und Kammerdiener im Jahre 1679 in Rudolstadt.2 Nur zwei Jahre später, im Alter von 23 Jahren, folgte der Aufstieg zum Capelldirector – ein Posten, der mit einigen Freiheiten verbunden war. Es wurde erwartet, dass er „die ordentlichen musikalischen Aufwartungen sowohl in der Kirchen als für der Tafel wie und wo wir es verordnen werden, fleißigst zu verrichten, wobey ihm aber frey steht, entweder seine eigene compositiones oder auch andere nach seinem gut Befinden zu gebrauchen“.3
Von Rudolstadt aus pflegte Erlebach verschiedenste Beziehungen beispielsweise zum Hof Sachsen-Weißenfels und dessen Kapellmeister Johann Phillip Krieger (1649–1726) oder aber an den herzoglichen Hof Braunschweig-Wolfenbüttel. Verbindungen nach Nürnberg verhalfen Erlebach nicht nur zu Aufführungen eigener Werke, sondern auch zum Druck dreier Werksammlungen, die in der fränkischen Stadt verlegt wurden. Nicht selten kam er von seinen Reisen auch mit Werken anderer Komponisten zurück. Ein großes Interesse zeigte Erlebach an französischen oder italienischen Einflüssen, die häufig Eingang in seine Werke fanden. Besonders der französische Stil war nicht nur für die Regenten am frankophilen Hofe zeit- und standesgemäß, sondern im ausgehenden 17. Jahrhundert auch musikalisch en vogue. Neben sechs Ouvertüren aus der Feder Erlebachs ist die französische Klangfarbe auch in anderen Werken immer wieder präsent. Dass größere Auslandsreisen in seiner Biographie nicht überliefert sind, scheint für ihn kein großes Hindernis gewesen zu sein, da das Erlernen anderer „Manieren“ und das Abschauen von „Kunstgriffen“ nach eigener Aussage allein durch fleißige Übung zu erlernen sei.4
Mit diesem Fleiß und seiner musikalischen Begabung entwickelte sich Erlebach – ab 1693 als Capellmeister – zu einem über die Ländergrenzen hinaus bekannten Komponisten. Der hoch angesehene Musikkritiker Wolfgang Caspar Printz (1641–1717) berichtete: „Von dannen kahm ich gen Rudolstatt / da ist Herr Erlebach bey dem Herrn Grafen von Schwartzburg Capellmeister welcher unter den teutschen Componisten die meiste Satisfaction giebt / und sich trefflich hervor thut“.5
Sein hohes Ansehen hat Erlebach neben dem Komponieren auch seiner Lehrtätigkeit zu verdanken. Von ihm unterrichtet wurde beispielsweise der spätere Bach-Schüler und Weimarer Hoforganist Johann Caspar Vogel (1696–1763), der danach sogar zum Bürgermeister in Weimar avancierte.
In knapp 35 Jahren etablierte Erlebach in Rudolstadt ein überaus reichhaltiges Musikleben mit zahlreichen Kompositionen verschiedenster Stile. Dennoch ist von seinem musikalischen Schaffen bis heute nur wenig erhalten. Die meisten seiner Werke fielen dem Schlossbrand von 1735 zum Opfer. Von über 120 Instrumentalwerken sind nur einige Sonaten und Suiten erhalten. Daneben sind mehrere Bühnenwerke bekannt. Überliefert und erhalten sind zwei bemerkenswerte Liedbände für Singstimme mit obligaten Instrumenten, die unter dem Titel Harmonische Freude Musikalischer Freunde 1697/1710 verlegt wurden. Das Hauptaugenmerk von Erlebachs Schaffen lag aber auf der Kirchenmusik. Allein 750 Kirchenmusikkompositionen sind in zwei von ihm selbst angelegten Inventaren zu finden, die mit 2640 Stücken von 150 verschiedenen Komponisten bis heute zu einer der größten Musiksammlungen des 17. bzw.18. Jahrhunderts gelten und detailliert Auskunft über die Musikkultur der Region geben. Die Zerstörung von etwa 90 % des eigenen Werks Erlebachs durch den Schlossbrand ist nicht nur ein unglaublicher Verlust – sie macht auch klar, weshalb der gebürtige Ostfriese in der Musikwissenschaft als „Komponist im Musikleben unserer Zeit über Jahrzehnte hinweg nicht die Beachtung fand, die ihm als einem der bedeutendsten Meister zwischen Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach – zumindest in der mitteldeutschen Musiklandschaft – zukommt“.6
Tillmann Steinhöfel